Rohkost – eine gesunde Zugabe zum Essen? Oder ein Lebensstil?

Rohkost

Rohkost: naturbelassene Ernährung: Obst, Gemüse, Salate, Sprossen, Nüsse, Samen, Blattgrün. Sie ist knackig, erfordert gesunde Zähne, aromatisch und manchmal auch bitter. Sie wird von Gesundheitsfanatikern, Fitness-Apologeten und Models verzehrt – manchmal geradezu demonstrativ und vor der Kamera. Es gibt sogar eine Gruppe, die rohe Tierprodukte verzehrt: man nennt sie „Instinctos“. Doch die meisten Fans der Rohkost sind zugleich Veganer.

Natürlich muss man die Personen für die Rohkost als Ergänzung zu einer gesunden Ernährung von den reinen Rohköstlern unterscheiden: die Ersten verzehren einen gewissen Anteil an Rohkost, vielleicht 30 oder 50% ihrer Ernährung. Die Letzteren folgen dem Ideal, sich 100%-ig von Rohkost zu ernähren. Oder sie versuchen es. Denn: die Verlockungen sind nun mal da, und so ganz kann man sich ihnen nie entziehen.

Ja, die so genannten Rohköstler machen rohes Essen zu ihrem Lifestyle. Gelegentlich mit grotesker Überhöhung als „allein selig machende Weisheit“ unter den „alternativen“ Ernährungslehren. Wohin das führen kann, zeigt ein wuchtiges 1400 Seiten umfassendes Werk namens „der große Gesundheits-Konz“, das ich vor vielen Jahren lesen „durfte“ und phasenweise anmutete wie seine eigene Satire. Aber viele finden das Werk über den Wald als Supermarkt garniert mit einem Pamphlet gegen die Schul- und Alternativmedizin nicht lustig, sondern vorsichtig ausgedrückt kontrovers.

Aber das muss ja nicht so sein. Ein konstruktiver Umgang mit der eigenen Ernährung ergibt sich durch den Satz:

„Sieh zu, dass Deine Ernährung Dir dient – und nicht Du Deiner Ernährung!“

Rohkost – eine kleine Definition und Argumente für rohe Nahrungsmittel:

Rohkost heißt, dass die Nahrung nicht über 40 Grad zubereitet werden darf, weil es sich sonst „chemisch verändert“ beziehungsweise denaturiert. Wie gesagt: die meisten Rohköstler, aber nicht alle Rohköstler sind dabei zwangsweise auch reine Veganer. Bis auf die erwähnte sehr geringe Randerscheinung (die „Instinctos“) leben aber die Rohkostgruppen nahezu bis ausschließlich vegan, zumindest vegetarisch. Und dabei gibt es noch Unterschiede.

Da gibt es welche, die sehen in rohen Getreide(produkten) überhaupt kein Problem, argumentieren im Gegenteil, dass der Mensch ohne Getreide kaum adäquat mit verschiedenen Nährstoffen und vor allen Dingen ausreichenden Kalorienzahlen zu versorgen seien, die „Getreide-Abstinenzler“ argumentieren hingegen, dass Getreide das Säure-Base-Gleichgewicht stört und überhaupt Reizerscheinungen im Darm und allgemein Verdauungsprobleme auslöst. Das schieben sie dann wiederum zu einem Teil auf die Tatsache, dass Getreide in unserer Zeit überzüchtet ist, zum anderen dann auf das Gluten, ein in verschiedenen Getreidesorten vorkommendes Eiweiß.

Hauptargument (der Rohköstler) für die Rohkost ist schlicht und ergreifend: Kochkost macht krank, da der Mensch evolutionär betrachtet keine Zeit hatte, sich dem Erhitzen von Nahrung anzupassen.

  • Temperaturen über 42°C bei der Zubereitung zerstören gewisse Enzyme, die bei der Aufschließung aller Nährstoffe helfen und auch im Körper wichtig sind, um bestimmte Stoffwechselvorgänge zu aktivieren und in Gang zu halten.
  • Kochen „denaturiert“ Eiweiß und macht es damit unbrauchbar und
    Unser Gebiss ist auf den Verzehr roher (und knackiger) Nahrung ausgelegt und „quittiert“ den langfristigen Verzehr von gekochter Nahrung mit Zahnschäden
  • Nach der Argumentation der Rohköstler hält nur Rohkost das Säure-Base-Gleichgewicht stabil und sorgt damit für stabile Knochen sowie flexible Gelenke und Muskeln

Innerhalb der Rohkost-Gruppen gibt es weitere, kleinere Untergruppen: einige ernähren sich ausschließlich von Obst und Nüssen, andere ausschließlich von Obst und Grün, wieder andere nehmen auch Kulturgemüse dazu, einige essen Wildpflanzen zu tropischem Obst wie „die Affen“, und so weiter. Diese unterschiedlichen Gruppen bekämpfen einander so leidenschaftlich wie alle Rohköstler zusammen die Kochkost (und die „Schulmedizin“). Es ist wie mit Geschwistern: untereinander dauernd am Streiten, nach außen einig.

Rohkost – die „reine Lehre“ ist nicht die Antwort auf alle Fragen!

Auch in Punkto Rohkost gibt es zwischen der dahinter stehenden Ideologie und der Realität Diskrepanzen. Es gibt tatsächlich einige Menschen, bei denen reine Rohkost durchaus länger erstens gut geht und zweitens deutliche positive Resultate bei der Gesundheit erzielt. Von der „täglichen Versuchung“ durch Zivilisationskost mal abgesehen, können diese Menschen durchaus Jahre mit einer reinen Rohkost-Ernährung gut zurechtkommen.

Aber das betrifft meiner Erfahrung nach eine kleine Minderheit. Ich habe genug Menschen kennen gelernt im Laufe meiner Praxisjahre, die voller Überzeugung mit 100% Rohkost begonnen haben und ein halbes Jahr später geschwächt, erschöpft und krank aufgaben.

Wir wollen also bei unserer Betrachtung nicht auf die reinen Rohköstler Bezug nehmen, sondern allgemein die Frage klären, wie viel Rohkost für eine gesunde Ernährung sinnvoll ist.

Rohkost: gibt es eine pauschale Antwort auf die Frage wie viel?

Da ich selbst die meisten Ernährungsformen, die es gibt, am eigenen Leib ausprobiert habe sowie viele Personen kenne, die intensive Erfahrungen mit reiner Rohkost-Ernährung gesammelt haben, kann ich vor allen Dingen eins feststellen: die Frage, wie hoch der Rohkostanteil in der gesamten Ernährung sein sollte, ist genauso individuell wie z.B. die Fleisch-oder-nicht-Frage.

Abseits individueller Erfahrungen hängt die Frage nach dem idealen Rohkostanteil zu einem erstaunlich großen Teil von der Magen-Darmtätigkeit ab. Und ausgerechnet in diesem Punkt kommt es zu einem großen Paradoxon: nach all meinen bisherigen Erfahrungen und abseits von Darmentzündungen wie Morbus Crohn oder Colitis ulcerosa ist Rohkost langfristig ausgerechnet für die Personen am wenigsten zu empfehlen, die an hartnäckiger Darmträgheit oder Verstopfung leiden. Der individuelle Rohkost-Anteil kann hier tatsächlich bei 0 % liegen. So erstaunlich es klingt!

Aber gehen wir doch einmal der berühmten warum-Frage nach.

Rohkost setzt, vor allen Dingen, wenn sie nicht optimal mechanisch oder biochemisch zerkleinert ist (d.h. im Mixer püriert bzw. so lange gekaut, dass sie fast flüssig ist), bereits im Dünndarm einen „Peristaltik-Reiz“, veranlasst also den Darm, sich zu bewegen. Man sollte meinen, dass das eine gute Sache ist. Dabei gilt es allerdings zu bedenken, dass die Darmpassage durch den Dünndarm in einem gesunden Darm normalerweise zwischen drei und 6 Stunden dauert. In dieser Zeit finden sowohl die enzymatische Aufspaltung der Kohlenhydrate (Mehrfachzucker) durch die Saccharidasen als auch die Resorption nahezu aller Makro- und Mikronährstoffe statt. Das funktioniert allerdings nur in einem leicht basischen Milieu: der pH-Wert des Dünndarms liegt in einem gesunden Darm zwischen 7,0 und 8,0. Nun gelten auch für den Dünndarm, was Säurereiz und Peristaltik angehen, die gleichen Gesetze wie für den Dickdarm. Aber was für den Dickdarm durchaus erwünscht ist - nämlich ein leicht saures Milieu und ein ständiger leichter Reiz, den Speisebrei durch Peristaltik weiter zu befördern - ist im Dünndarm ausgesprochen ungünstig. Aber es ist genau das, was passiert, wenn zu viel Rohkost auf ein zu schwaches Verdauungssystem und auf eine zu schwache Peristaltik treffen: der Dünndarm wird „sauer“.

Das beschleunigt nicht nur erheblich die Darmpassage, sondern führt zu Gärungsprozessen, einer schlechteren Aufnahme von Nährstoffen und eine Veränderung von Milieu und Flora im Dünndarm. Durch den ständigen Reiz wird die natürliche Peristaltik zudem schwächer. Dieser Säurereiz wird natürlich auch eins zu eins auf den Dickdarm übertragen und sorgt dort für unüblich saures Milieu. Der pH-Wert kann dabei auf Werte um 5,5 absinken, was selbst für den Dickdarm viel zu sauer ist. Das ist erstens viel weniger gesund als sich das Wort „Rohkost“ anhört und hat Konsequenzen für die Verdauung:

  • Im Dünndarm findet Gärung statt. Dadurch entstehen minderwertiger Alkohol und Aldehyde. Diese müssen von der Leber abgebaut werden. Eine chronische, schleichende Lebervergiftung ist die Konsequenz, was F. X. Mayr (den Begründer der Milch-Semmel-Kur) zu folgendem Spruch veranlasst hat: „der Rohköstler ist vom Alkoholiker nur durch den intelligenteren Gesichtsausdruck zu unterscheiden!“
  • Durch den sauren pH-Wert und die schnelle Darmpassage wird alles, vor allen Dingen aber Kohlenhydrate, wesentlich schlechter verdaut und aufgenommen. Das führt zu einem raschen Energiemangel, was eine Bekannte von mir - ebenfalls Heilpraktikerin - zu folgendem Spruch veranlasst hat: „während meiner Rohkost-Phase hätte niemand von mir verlangen dürfen, mich aus dem Bett zu erheben!“
  • Der ständige Säurereiz richtet im Dickdarm das an, was auch ein Abführmittel langfristig tut: die Darmmuskulatur erschlafft irgendwann, es kommt zu chronischer Verstopfung. Interessanterweise hatte ich während meiner eigenen Rohkost-Experimente von vornherein eher Verstopfung als Durchfall.

Rohkost ist natürlich nicht generell schlecht!

Natürlich ist dies kein Grund, Rohkost an sich zu verteufeln. Rohkost hat natürlich ernährungsphysiologisch sehr gute Eigenschaften: die wichtigste ist der Gehalt an Enzymen, diese Eigenschaft kommt noch vor Vitaminen und Mineralstoffen, da unsere Ernährung im Allgemeinen an Enzymen verarmt ist. Enzyme sind aber wichtig für viele Stoffwechselfunktionen und das Immunsystem. Sie haben ebenso die Eigenschaft, den Körper zu entgiften. Wovor ich aber warne, ist, aus einem Ernährungssystem eine Ideologie zu machen und zu postulieren, dass sie die einzig wahre wäre.

Es hängt tatsächlich viel vom Zustand der Zähne, von der natürlichen Peristaltik, von der natürlichen Zusammensetzung der Darmflora und von den pH-Wert im Magen-Darm-Trakt ab. Ich habe im Laufe meiner Praxisjahre etliche Personen kennen gelernt, die überhaupt keine Rohkost vertragen und selbst auf die geringsten Mengen - ja, sogar auf die sehr verträgliche und angenehme Form der „grünen Smoothies“ - mit heftigsten Durchfällen reagieren. Ich habe auch das andere Extrem kennen gelernt, dass Menschen sehr gut mit einer größtenteils oder reinen Rohkost-Ernährung wunderbar zurechtkamen und sich sehr gut dabei fühlten, und natürlich alle Zwischenstufen. Ich möchte nicht um den heißen Brei herumreden und Ihnen ein hoch komplexes System vorstellen, mit dem sie ihren individuell optimalen Rohkostanteil bestimmen können. Achten Sie in der Praxis einfach nur auf folgende Punkte:

  • Essen Sie im Winterhalbjahr nur halb so viel Rohkost wie Sommerhalbjahr. Wenn ihr Rohkostanteil im Sommer 50 % liegt, dann verzehren sie im Winter 25 %. Wir sind hier in Mitteleuropa, und hier wird es im Winter kalt.
  • Verzehren Sie Rohkost vor Kochkost: der Salat kommt immer vor dem Hauptgang, doch niemals danach.
  • Im Gegensatz zu landläufigen Meinungen funktioniert eine geringe Menge an Rohkost auch am Abend, wenn Sie erstens nachts keine Blähungen bekommen und zweitens der Stuhlgang am nächsten Tag nicht wesentlich weicher wird als normalerweise. Übertreiben Sie es aber nicht.
  • Kauen Sie sehr gründlich, oder benutzen Sie einen Mixer!
  • Lassen Sie zwischen Rohkost und einer gekochten Hauptmahlzeit ein paar Minuten Abstand.
  • Essen Sie Obst, egal ob rohe Früchte oder Trockenfrüchte, niemals mit etwas stärkereichem zusammen.
  • Erhöhen Sie Ihren Rohkostanteil, wenn Ihre Stühle zäh oder schmierig werden oder nach faulen Eiern riechen.
  • Verringern Sie ihren Rohkostanteil, wenn ihre Stühle weicher werden, breiig oder flüssig werden, spritzen oder säuerlich riechen.
  • Essen Sie zum Frühjahr hin überwiegend Grün und erhöhen Sie in etwa ab Juni allmählich in kleinen Schritten ihren Anteil an Obst und Früchten.
  • Klingt komisch, ist aber so: halten Sie sich im Winter mit Obst zurück, verzehren Sie nur einheimisches Obst (zum Beispiel Lageräpfel) und dieses nur in moderaten Mengen.
  • Seien Sie vorsichtig mit exotischen Früchten, wenn Sie diese verzehren, achten Sie auf biologische Qualität. Exotisches Obst, das nicht biologisch erzeugt wurde, weist auf besonders große Konzentrationen an Pestiziden und Pflanzenschutzmitteln auf.
  • Achten Sie darauf, dass Sie mit der Rohkost nicht zu viel Fructose (Fruchtzucker) aufnehmen. Eine Tagesdosis von 30 g oder mehr Fruchtzucker wirkt sich bei etwa zwei Drittel der Bevölkerung langfristig nachteilig auf die Gesundheit aus (denken Sie an die Diskussion um Diabetiker-Lebensmittel, die vor einigen Jahren aufkam!). Rohköstler sind da zwar besser dran – aber nicht „unverwundbar“!

Wenn Sie diese Punkte zum Thema Rohkost beachten, können Sie nicht viel falsch machen! Sollten Sie an ernährungsbedingten Problemen oder Stoffwechselkrankheiten leiden, wenden Sie sich bitte an einen qualifizierten Therapeuten oder Ernährungsberater, der die Ernährung individuell auf Ihre Bedürfnisse abstimmt!

Ach ja: sollten Sie tatsächlich zu den wenigen Personen gehören, die sich rein rohköstlich ernähren und bei denen es wirklich funktioniert, brauchen Sie selbstverständlich nicht damit aufzuhören!

Mein Fazit

Rund um die Rohkost-Ernährung gibt es einige Wahrheiten – und viel Ideologie. Das ist leider nicht anders als bei anderen Gesundheitsthemen. Problematisch wird es dann, wenn die Erfahrungen einer Person eins zu eins auf alle übertragen wird. Das gilt ebenso nicht nur für Rohkost. Fakt ist: je nach Darm- und Stoffwechsellage kann der individuell optimale Rohkost-Anteil zwischen 100% und 0% betragen!

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