Übersäuerung – Mythos oder Gesundheitsroblem?
Vielleicht waren Sie ja schon mal bei einem naturheilkundlichen Arzt, oder bei einem Heilpraktiker, mit den typischen Allerweltssymptomen: Müdigkeit, Abgeschlagenheit und Infektanfälligkeit, Hautjucken, Sodbrennen, Appetitlosigkeit oder Heißhunger, Kopfschmerzen oder andere Symptome...und eine Untersuchung erbrachte: „Nichts“. Ein funktionelles Geschehen?
Die Nerven, wie man auf gut deutsch sagt? Nein, ihr Therapeut konfrontiert Sie mit einer ganz neuen Diagnose: „Sie sind übersäuert!“ Das höre ich ziemlich oft von Patienten, die bei mir vorstellig werden, und denen eine „Entsäuerungskur“ nichts gebracht hat. Und die mich dann fragen: „Bin ich wirklich übersäuert?“ Hier einige verblüffende Fakten zu einem ganz und gar „ganzheitlichen“ Thema, die Sie mit Sicherheit noch nicht kennen!
Übersäuerung, was ist das eigentlich?
Wenn Sie zu einem Arzt für alternative Heilverfahren oder einem Heilpraktiker gehen, stehen Ihre Chancen rund 80%, dass Sie diese Floskel zu hören bekommen: „Sie sind übersäuert!“ Zunächst einmal, was meint der Therapeut damit? Allgemein, dass der Säure-Base-Wert durch irgendwelche Stoffwechselvorgänge in Ihrem Körper gesunken ist, dass Sie „saurer“ geworden sind...vor allem im Bindegewebe.
Wodurch auch das Blut „saurer“ wird: dickflüssiger, weniger Sauerstoff bindend – die Durchblutung sinkt. Vielleicht haben Sie schon einmal auf einer Aufnahme der so genannten „Dunkelfeldmikroskopie“ das „Geldrollenphänomen“ gesehen: rote Blutkörperchen ballen sich zusammen. Ein sehr gerne geführter Beweis für eine „Übersäuerung“.
Nur: Groß übersäuern kann beziehungsweise darf das Blut gar nicht: dessen pH-Wert (Säure-Base-Wert) ist nämlich sehr konstant bei rund 7,35 (das ist leicht basisch, vielleicht wissen Sie noch vom Chemieunterricht: ein pH-Wert von 7 ist neutral, 14 ist stark basisch, 0 ist stark sauer, also Werte unter 7 sind sauer und Werte über 7 sind basisch!).
Dann ist die Säure-Basen-Polizei des Körpers gefragt: Mineralstoffe aus Organen, aus Zellen, vor allen Dingen aus Knochen werden zur Neutralisierung der „bösen Säuren“ herangezogen. Und das ist der ganze Teufelskreislauf.
Wenn Ihr Therapeut einmal zu dieser Diagnose gekommen ist, wird er Ihnen die folgenden Maßnahmen empfehlen: Sie sollten viele Mineralstoffe zu sich nehmen, sich mit Tees oder viel Wasser entschlacken („entsäuern“) und sich vor allen Dingen „basisch“ ernähren, das heißt: Viel Obst und Gemüse, überwiegend oder ganz vegetarisch, Milchprodukte und Getreidemehle einschränken, ballaststoffreich und natürlich im Verzicht auf verschiedene Reiz- und Genussmittel: Zucker, Kaffee, Alkohol, Softdrinks. Wahrscheinlich sollen Sie noch das ein oder andere Nahrungsergänzungsmittel nehmen. Mineralisch, basisch, gut.
Dichtung oder Wahrheit...das ist hier die Frage...
Zunächst einmal: Ich denke, dass bei einigen Menschen diese Therapiemaßnahmen sehr gut helfen. Aber folgende Behauptung eines meiner Kollegen auf einem Fachkongress halte ich für sehr vollmundig: „Über 90% der Bevölkerung in der westlichen Zivilisation ist übersäuert!“
Nun ja, lassen Sie mich dieser Behauptung (die Sie als gesundheitsbewusster Mensch wahrscheinlich auch schon mal irgendwo gehört haben?) Folgendes entgegenhalten: „35 bis maximal 40% der Bevölkerung neigen stoffwechselbedingt zu einer Übersäuerung.“ Und von denen werden sich mit Sicherheit auch einige basenbildend ernähren. Womit wir schon wieder bei der nächsten Frage wären: Was ist das eigentlich, eine basenbildende Ernährung?
Was macht basisch?
Wenn Sie ein kleines bisschen Ahnung von der Materie haben, werden Sie mich für verrückt erklären, wenn ich Ihnen jetzt sage, das Fleisch basischer macht? Wie bitte? Nun, es kommt drauf an, wo im Körper! Denn Fleisch macht jeden Dickdarm basischer, vor allen Dingen, wenn ein hoher Anteil Fleisch einem nur geringen Anteil von Kohlehydraten gegenüber steht.
Basischer im Darm kann ein Vorteil sein, zum Beispiel wenn jemand chronisch zu Durchfall neigt. Die Lutz-Diät, die bei den chronisch-entzündlichen Darmerkrankungen oft empfohlen wird, ist so eine kohlehydratarme Diät, die den Darm basischer macht. Basisch im Darm kann aber auch ein Nachteil sein: Die Fäulnisflora, die in geringem Maß nicht schadet, vermehrt sich. Und das ist wiederum nicht sehr günstig. Außerdem brauchen viele Menschen einen sauren Darm.
Der pH-Wert des Stuhls sollte bei rund 6,3 liegen, also leicht sauer sein. Langkettige Kohlehydrate wie zum Beispiel das Inulin, oder Ballaststoffe, machen den Darm „saurer“ – und das freut gute Darmbakterien, wie beispielsweise den Acidophilus. Acidophilus kommt aus dem Latein und bedeutet „säureliebend“. Basisch ist also nicht unbedingt immer oder überall im Körper gut.
Mit den Säuren und Basen ist es nämlich gar nicht so einfach, wie das immer dargestellt wird! Im Gegenteil ist diese Thematik äußerst komplex. Denn: Erstens wird der Körper nicht einfach „saurer“ oder „basischer“ durch bestimmte Faktoren, und zweitens reagiert jedes Nahrungsmittel bei Jedem anders. Wird der Darm basischer, wird das Bindegewebe saurer. Bei vielen, nicht bei allen. Was also „basisch macht“, ist bei jedem grundverschieden. Sie müssen sich vor allen Dingen zwei Fragen stellen:
- Was für ein Stoffwechseltyp bin ich?
- Wo will ich die Basen haben, und wo die Säuren?
Schon erkennt man, dass man da nicht einfach pauschalisieren kann. Aber hier einige Beispiele:
„Fleisch übersäuert!“
Diese oft gebrauchte These in der Naturheilkunde stimmt...bei rund 25% (also ein Viertel) der Bevölkerung. Für den Rest trifft einer der folgenden Punkte zu. Entweder: Fleisch macht sie basischer, oder: Sie neigen von vornherein nicht zur Übersäuerung. Sind also tendenziell eher zu basisch von ihrem Stoffwechsel.
„Fast alle sind übersäuert!“
NEIN! Denn nur rund 40% der Bevölkerung haben überhaupt ein Übersäuerungspotential, sind also vom Stoffwechsel her so gepolt, dass sie theoretisch übersäuern könnten. Doch ein gewisser Teil dieser Gruppe lebt und ernährt sich sehr gesundheitsbewusst. Daher kann man eher von 25 bis 30% der Bevölkerung davon ausgehen, dass sie tatsächlich übersäuert sind
„Basen sind immer gut! Säuren sind immer schlecht!“
Auch das ist falsch. Ein zu basischer Gesamtstoffwechsel kann zum Beispiel folgende Probleme aufwerfen: Hormonelle Unterfunktion, niedriger Blutdruck, Magen-Darm-Störungen, chronische Durchfälle, Hauterkrankungen, Allergien und Autoimmunerkrankungen, hormonell bedingte Ödeme. Diese Dinge als Beispiele, wobei die Wahrheit wie so oft noch komplexer gelagert ist. Man kann hier nichts über einen Kamm scheren!
„Zucker und Kaffee übersäuern!“
Kurzfristig stimmt das sogar. Aber langfristig sieht das ganz anders aus. Meine Erfahrungen haben ergeben, dass sowohl Kaffee als auch Zucker mittel- bis langfristig das vegetative Nervensystem erschöpfen. Der Körper versucht dann Energie zu gewinnen.
Sie merken das, wenn nach dem Essen ihre Leistungsfähigkeit bald abfällt oder Sie das Gefühl haben, „ohne Kaffee gar nicht mehr in die Gänge zu kommen“. Dagegen hilft übrigens in den meisten Fällen ein eiweißreiches, also im klassischen Sinne „säuerndes“ Frühstück! Allerdings nicht von heute auf morgen, sondern erst nach einigen Wochen.
Viele Geheimnisse
Es gibt etliche Geheimnisse der Säure-Base-Lehre, zum Beispiel, dass Eiweiß nicht nur sauer verstoffwechselt wird, sondern auch Säure im Organismus puffert. Aber das würde zu weit führen…
„Aber was kann ich tun, wenn alles so kompliziert ist?“
Wenn Sie mit großer Sicherheit richtig liegen und möglichst wenig verkehrt machen wollen bei Ernährungs- und Lebensstil, empfehle ich Ihnen folgende drei Punkte:
- Ernähren Sie sich nach dem „Ulmicher’schen Teller“
25% Eiweiß und Fett: Fleisch, Fisch, Eispeisen, Milchprodukte, Nüsse...
25% stärkereiche Kohlehydrate: Kartoffeln, Reis, Teigwaren...
50% stärkearme Kohlehydrate: Gemüse, Obst, Sprossen, Salate...
Kombinieren Sie nicht mehrere Eiweißträger miteinander (also verschiedene Fleischsorten, Fleisch mit Fisch, Fleisch mit Milchprodukten etc.)
- Genussmittel zum Genuss, nicht aus Gewohnheit
Niemand sagt etwas, wenn Sie sich im Sommer in ein Eiscafé setzen und gemütlich einen großen Sahneeisbecher verkosten. Das kommt drei, viermal im Jahr vor und schadet Ihnen nicht. Anders sieht es mit Gewohnheiten wie jeden Tag 4 Tassen Kaffee etc. aus.
- Kultivieren Sie das „gesunde Mittelmaß“ auch in Sachen Bewegung und Lebensführung!
Wenn Sie jeden Tag spazieren gehen und zweimal die Woche für eine halbe bis eine Stunde einen anstrengenden Sport betreiben, dann reicht das. Das gesunde Mittelmaß bezieht sich genauso auf das Trinken (regelmäßig zwischendurch kleine Mengen wie ein Glas Wasser trinken, aber nicht „saufen wie eine Kuh“), auf das Schlafen (9 Stunden Schlaf sind für die meisten nicht gesünder als 7,5 bis 8)
Wenn alles Andere ebenso stimmt, Sie keine chronischen Belastungen entweder durch geistigen Stress oder durch „Körper-Stress“ haben, dann sind Sie mit diesen drei Punkten auf jeden Fall auf der sicheren Seite, was den „Säure-Base-Haushalt“ angeht!
Das Wort „Übersäuerung“ wird im Bereich der Naturheilkunde und Alternativmedizin oft bemüht - für meinen Geschmack etwas zu häufig. Nicht alle Alltagsbeschwerden, die anscheinend funktioneller Natur sind, lassen sich darauf zurückführen. Und was noch viel wichtiger ist: es ist von Typ zu Typ völlig verschieden, was den Stoffwechsel „saurer“ und was ihn „basischer“ macht! Im Zweifelsfall hilft: Mäßigung in allen Bereichen - und Genussmittel wirklich nur zum Genuss!
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